Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Ich möchte diesen Vortrag mit einer Vorwarnung und einer Entschuldigung beginnen. Erstens die
Vorwarnung. Wir betreten heute gemeinsam dünnes Eis, sehr dünnes Eis sogar, das dadurch
gekennzeichnet ist, dass es nicht sehr tragfähig ist und sich unter der Oberfläche Strömungen und
Untiefen verbergen, die kalt, dunkel und ideologisch zum Teil abgründig sind. Aufgrund dessen ist ein
buchstäblich vorsichtiges Vorgehen geboten, um nicht die analytisch-deskriptive Beobachterposition
zu verlassen und selbst einzubrechen, was mich zu zweitens der Entschuldigung führt. Auch wenn er
sich noch so sehr dagegen wehrt und es zu vermeiden sucht, läuft auch dieser Vortrag aufgrund des
Facettenreichtums und der Komplexität des Themas Gefahr, auch selbst nicht völlig ohne Klischees,
Kategorisierungen und Simplifizierungen auszukommen, von denen der Diskurs um Parallelgesellschaften
hierzulande geprägt ist. Deswegen habe ich auch bewusst so einen ziemlich plakativen Vortragstitel
gewählt. Dennoch hoffe ich inmitten der so häufig polemischen und schwarz-weiß verfahrenen Debatte
in den nächsten gut 60 Minuten einige graue Schattierungen aufzeigen zu können. Für das
Einebenen einerseits, wie für das Konturieren dieser Schattierungen andererseits, ist dabei
jeweils ein und dieselbe Kulturtechnik verantwortlich, die Kulturtechnik des Erzählens nämlich, zu deren
vielfältigen Aufgaben seit jeher die Konstruktion von Identitäten ebenso wie auch von Alteritäten
zählt. Der Entwurf von Zugehörigkeit ebenso wie von Abgrenzung und Distanzierung, das Hörbarmachen
ebenso wie das Verschweigen von Stimmen. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke
schreibt dazu in seiner Erzähltheoretischen Studie Wahrheit und Erfindung. Insofern das
Erzählen Welt aufschließt und Wissen vermittelt oder abwehrt, erfüllt es eine kognitive und
epistemische Funktion. Darüber hinaus ist es in ein kommunikatives Fluidum eingebettet,
innerhalb dessen es Affekte bindet bzw. freisetzt. Dabei mag es um Angst Bewältigung einerseits,
um weiche Sanktionierung von potentiell sozial schädlichem Verhalten und damit Angst Erzeugung
andererseits gehen, um die Formung bzw. Instrumentalisierung von Aggressionen oder
um die Modellierung von Gruppenzugehörigkeit. Durch Erzählungen wird ein Bild des eigenen
und des Fremden generiert, das kollektive Energien auf sich zieht und so den Mechanismus
einer Selbstrealisation in Gang setzen kann. Es sind gerade die erzählerischen Techniken,
die eine solche Verdichtung der Energien bewirken. Durch Komprimierung sozialer
Verhandlungsmasse in bestimmten Erzählkernen, die eine unerschöpfliche Quelle der Irritation
und Faszination bleiben und nicht zuletzt durch den Einbau von Sub- und Gegen-Narrativen,
die auch Minoritäten und unterlegenen Parteien Teilhabe an der kollektiven Überlieferung und
der durch sie gestifteten Gemeinschaftlichkeit sichert. All diese unterschiedlichen Funktionen,
die kognitive, die epistemische und die affektive, sind bei unserem heutigen Thema in unterschiedlichen
Erzählungen in unterschiedlichster Couleur anzutreffen. Dies liegt vor allem darin begründet,
dass kaum eine tagespolitisch aktuelle Entwicklung im literarischen, wissenschaftlichen und medialen
Diskurs in Deutschland derzeit solch einen Widerhall findet, wie die vielfältigen Erzählungen
rund um das Konzept der Parallelgesellschaft. Von A wie Anne Will bis Z wie die Zeit beherrscht
die Berichterstattung um die Sorge bezüglich der Bildung von Parallelgesellschaften und die Art
und Weise, wie diese Entwicklung gesellschaftlich wie politisch begegnet werden kann, die mediale
Landschaft. Dabei ist dieses Thema gar nicht so neu, denn wie wir im Rahmen dieser Ringvorlesung
bereits gehört haben, stammt der Begriff der Parallelgesellschaft, der von dem Bielefelder
Soziologen Wilhelm Heidmeier, allerdings unter Verwendung von Anführungszeichen, die ich heute
auch immer implizit mitdenke, ähnlich wie du letzte Woche, geprägt wurde. Also der Begriff wurde bereits
in den 1990er Jahren geprägt und geistert seither in unterschiedlichsten Spielarten durch den
Diskurs. Von türkisch-muslimischen Jugendlichen über Cyberkriminelle, die das Internet bevölkern,
bis hin zu wohlhabenden deutschen Eliten, die einen Klassenkampf von oben führen, wurde schon
jede dieser gesellschaftlichen Gruppen als Parallelgesellschaft bezeichnet. Insbesondere
in den beiden vergangenen Jahren jedoch hat die Debatte um die Bildung von Parallelgesellschaften
eine dramatische Reaktualisierung und Aufladung erfahren, indem durch die katastrophischen
Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart und der damit einhergehenden weltweiten
Presenters
Dr. Agnes Bidmon
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:33:18 Min
Aufnahmedatum
2016-12-20
Hochgeladen am
2016-12-21 14:22:30
Sprache
de-DE